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Buchtipp „Das Verschwinden der Frauen“

 

FF*GZ Mitfrau Doris empfiehlt das 2013 im dtv-Verlag erschienene Buch „Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen“, der vielfach ausgezeichneten amerikanischen Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl. In dem mehr als 400 Seiten dicken Buch geht es um den Umgang mit den dem weiblichen Geschlecht zugeordneten ungeborenen Menschen.

 

„Die Autorin beginnt dieses Buch mit ihren Erlebnissen als Kind. Sie wuchs bei ihrer alleinerziehenden und finanziell schlecht gestellten Mutter auf, die zudem noch studierte. Ihre Mutter gründete zusammen mit einer befreundeten Kommilitonin aus China, ebenso alleinerziehend mit zwei Kindern, eine Wohngemeinschaft. Die beiden Frauen teilten sich partnerschaftlich die erzieherische Verantwortung für die drei Kinder.
Sie schreibt in ihrem Vorwort, Mao Zedong habe einmal gesagt, Frauen stützten den halben Himmel. Dies glaubte sie auch, bis sie selbst nach China zog. Am nachhaltigsten hat sich in ihrer Kindheit der Eindruck von Stärke der Frauen in ihr Gedächtnis gebrannt: „Bei uns zu Hause stützten Frauen den ganzen Himmel – und brachten den Müll raus.“
 
Als Mara Hvistendahl dann als Erwachsenen zum Chinesisch-Studium für einige Monate in China lebte, hatte sie zuerst den Eindruck, dass Frauen in China tatsächlich gleichgestellt seien. Sie traf Topmanagerinnen, Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen und in Vielem war eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen sichtbar. Bei der Besichtigung einer Vorschule war sie jedoch damit konfrontiert, dass sie dort fast nur Jungen sah. Sie untersuchte daraufhin an verschiedenen Orten in China und später in Indien, in Ländern Afrikas und Lateinamerikas, in Aserbeidschan, Albanien, dem Kaukasus den Zusammenhang zwischen dem Geschlechterverhältnis bei den Geburten und selektiver Abtreibungen. Bei Ihren Recherchen fand sie heraus, dass in einem großen Teil unserer heutigen Welt das natürlicherweise vorhandene Geschlechterverhältnis in eklatanter Weise aus der Balance gebracht worden ist. Normalerweise, wenn wir Menschen der Natur ihren Lauf in der Fortpflanzung lassen, kommen auf 100 weibliche Geburten 105 männliche. Diese kleine Differenz wird durch die geringere Lebenserwartung des männlichen Geschlechts und andere Faktoren ausgeglichen. In China aber ist es durch die selektive Abtreibung der weiblichen Föten zu dem Verschwinden von 163 Millionen Frauen im Verhältnis zu den Männern gekommen. Diese Zahl entspricht der Gesamtzahl der weiblichen Bevölkerung in den USA.
 
Mara Hvistendahl stieß bei ihren Recherchen auch auf die Folgen der selektiven Abtreibung des weiblichen Geschlechts: nämlich eine steigende Gewalt gegenüber Frauen, Zwangsverheiratung und grenzüberschreitender Frauenhandel.
 
Zum einen belegt sie durch Recherchen in den USA, dass die Bevölkerungspolitik z B in China oder Indien auf die Programme amerikanischer Demografen und Wirtschaftswissenschaftler zurückgingen. Diese Programme führten dazu, dass beispielsweise in Indien und China Spätabtreibungen bis im 9. Monat und Zwangssterilisierungen von Männern und Frauen vorgenommen wurden.
 
Nachdem die Bevölkerungsstrategen feststellten, dass sich die Geburtenrate in diesen Ländern am ehesten senken ließ, wenn sie einem Paar die Geburt eines Sohnes zugestanden, begann der Siegeszug der selektiven Abtreibung vor allem, als dann bis in entlegenen Regionen Ultraschallgeräte geliefert wurden. In Ländern mit einer strengen Ein-Kind-Politik wie in China führte das am extremsten zur Vernichtung weiblicher Föten. In Ländern, wo es den Paaren erlaubt war/ist, auch zwei Kinder zu bekommen, fand sie in den vorhandenen Statistiken bei der ersten Geburt ein annährend normales natürliches Geschlechterverhältnis vor, war aber das erste Kind ein Mädchen, dann schnellten die Zahlen der selektiven Abtreibung bei der zweiten Schwangerschaft steil nach oben.
 
Mara Hvistendahl hat in diesem Buch mit Verantwortlichen dieser Programme ebenso gesprochen wie mit Menschen, die ihre Opfer wurden. Die Maskulinisierung der Weltbevölkerung hat ihre Auswirkungen überall hin, auch direkt in unsere Gesellschaft hinein. Sie erzeugt bei aller scheinbaren Gleichstellung der Geschlechter bei uns eine tief im kollektiven Unterbewusstsein verankerte Frauenverachtung.

 
Ich habe diese Rezension 2013 für die Zeitschrift Lachesis meines feministischen Berufsverbandes für Heilpraktikerinnen geschrieben. Heute, acht Jahre später, sind neue Aspekte in die Gender-Debatte gekommen und die Frage Geschlecht und Gender wird nochmal neu und diverser debattiert. Leider ändert das nichts daran, dass Menschen, die dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, in vielen Ländern dieser Welt als wertvoller gelten und mehr berechtigt sind, auch geboren zu werden, Auch wenn in China jetzt durch den starken erzwungenen Geburtenrückgang jetzt wieder 2 Kinder erlaubt sind, existiert diese patriarchale Norm ungebrochen in vielen Regionen in der Welt und führt auch 2021 dazu, dass der selektiven Geburtenkontrolle vor allem weibliche Föten zum Opfer fallen. Wir könnten vielleicht die Meinung vertreten, dass dies nicht unser Problem ist, weil es dieses Phänomen so in Deutschland nicht gibt, aber eine solche patriarchale Gewalt in einem Teil der Welt hat Auswirkungen auf alle Gesellschaften. Zu diesem großen Thema Frauenverachtung und des damit verbundenen gesellschaftlichen Umgangs mit der Fertilität von uns Menschen und den Geschlechterbildern, die unser Denken und Handeln prägen, ist dieses Buch ein unbedingtes Muss. Darüber hinaus vermag die Autorin ungemein lebendig, scharfsinnig und trotz des erschreckenden Inhalts auch witzig zu schreiben.“

 

Rezension: Doris Braune
 
dtv-Verlag, deutsche Erstausgabe 2013, amerikanische Originalausgabe 2011, 424 S., geb., € 24,90, ISBN 978-3-423-28009-9