Unsere Geschichte

April 1971: Erste öffentliche Vagina-Selbstuntersuchung

Die Aktivistin Carol Downer sieht sich 1971 mit einem Plastik-Spekulum, einem Spiegel und einer Taschenlampe im vollen Hörsaal einer Universität in Los Angeles ihre eigenen äußeren und inneren Geschlechtsteile an – ein Skandal!

Ihr Impuls: Frauen bekommen gewöhnlich diesen Teil ihres Körpers selbst nie zu sehen, jedoch viele Männer – und einige wenige Frauen, soweit es sich um Studentinnen und Gynäkologinnen handelt. Carol Downer, später feministische Anwältin, wollte die Selbstbestimmung über ihren Körper erlangen, anstatt dies den Ärzten und der Schulmedizin zu überlassen. Sie gründete mit anderen Frauen das erste „Feminist Women’s Health Center“ mit dem sie durch die USA reiste, um die Spekulum-Methode zu verbreiten, Frauengesundheit zu thematisieren und für ein Recht auf Abtreibung zu kämpfen.

1974: Gründung des ersten Frauengesundheitszentrums in Deutschland

Gemeinsam mit Debbie Law kommt Carol Downer 1974 nach Deutschland, um dort die Selbstuntersuchung dem neugegründeten Frauengesundheitszentrum Berlin vorzustellen – welches die Methode weiter verbreitet. Diese Entwicklung löst in der Öffentlichkeit Misstrauen aus. So wendet sich eine damalige Politikerin in Form eines offenen Briefs an die Öffentlichkeit und warnt, aus dem Treiben dieser Frauen könnten „große Gefahren für Leib und Seele entstehen“.

Das Wissen um den eignen Körper bedeutet die Rückeroberung des Körpers – die Moralvorstellungen von Generationen werden grundlegend verändert – eine Revolution durch das Zeigen der Vulva!

1976-1986: Viele Töchter der Frauenbewegung

In ganz Deutschland bilden sich mehr und mehr Frauenzentren als Orte der eigenen, frauenidentifizierten, autonomen und basisdemokratischen Aufklärung und Beratung. In Stuttgart entsteht eine Frauenbewegung – in einem Wohnzimmer in der Kernerstrasse 31. Sehr schnell wird dieses Frauenzentrum der Ausgangspunkt für die wachsende Frauenbewegung in Stuttgart.

Es werden Schwangerschaftstests in der Küche durchgeführt, Schwangerschaftsberatung angeboten und Abtreibungsfahrten nach Holland organisiert. Ein wichtiger Einfluss ist die sogenannte „218er-Gruppe“, welche Aktionen gegen den Paragrafen 218 durchführt, der Abtreibungen ahndet.

Kurze Zeit später zieht die lose Gruppe in die Ladenwohnung im Erdgeschoss des Hauses als „Frauenzentrum Stuttgart“ ein, die Räumlichkeiten, in denen das FF*GZ bis heute zu Hause ist. Es werden viele Aktionen, wie die Rathausbesetzung, die Besetzung des Charlottenplatzes und die z.T. bis heute praktizierten „Walpurgisnacht-Demonstrationen“ durchgeführt, die unter dem Motto stehen: Wir erobern uns die Nacht zurück und protestieren gegen sexualisierte Gewalt und Sexismus!

Aus dieser zweiten Frauenbewegung entstanden viele Projekte, die bis heute bestehen: Das „SARAH Frauenkulturzentrum“, „Wildwasser e.V.“, „Frauen helfen Frauen“, „Prostitutionsberatung Lola“, „LAGAYA Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e.V.“

1986: Gründung des FFGZ Stuttgart

Im Jahr 1986 wurde das „Feministische Frauengesundheitszentrum Stuttgart“ als Selbsthilfeprojekt gegründet. Die Gründungsgruppe bestand überwiegend aus Sozialpädagoginnen und Medizinstudentinnen.

Das Selbstverständnis des Zentrums: „Der Selbsthilfeansatz bietet die wesentliche Arbeitsgrundlage für Beratungen, Kurse und Gruppenarbeit. Das FFGZ bietet Mädchen und Frauen aller Altersgruppen die Möglichkeit, bei Fragen oder Problemen der Gesundheit Information und Beratung in Anspruch zu nehmen. Dies geschieht in Einzel- oder Gruppenarbeit.” Außerdem unterhält das FFGZ ein Archiv zum Thema Frau und Gesundheit, das ratsuchenden Frauen und Mädchen während der Öffnungszeiten zugänglich ist.

Wie auch Aktivistinnen anderer Frauenzentren in Deutschland reisen Frauen der Stuttgarter Gründungsgruppe in die USA. Angeleitet von Aktivistinnen der dortigen Frauengesundheitsbewegung eignen sie sich Kompetenz in Bezug auf Verhütungsmöglichkeiten an und erlernen das Anpassen und Einsetzen des Diaphragmas und der Portiokappe. Die Verwendung dieser Barriere-Verhütungsmittel trägt zu wachsender Unabhängigkeit der Frauen von der damals weitgehend männlich dominierten Gynäkologie bei.

 

1994: Eine neue Generation übernimmt den Verein

Mit Unterstützung durch die Gründungsgruppe übernimmt im Jahr 1994 eine „zweite Generation“ das FFGZ: Fünf Heilpraktikerinnen und eine Ernährungswissenschaftlerin bieten im Rahmen regelmäßiger Öffnungszeiten persönliche oder schriftliche Beratung, alternative Behandlungsweisen, Information und Aufklärung an. Zudem organisieren die Aktivistinnen Workshops und Veranstaltungen, veröffentlichen Broschüren und beteiligen sich an den aktuellen politischen Diskussionen, in Arbeitskreisen und auf Podien.

Wichtigste Themen in dieser Zeit bleiben die Anpassung von Portiokappe und Diaphragma, Aufklärung über die Risiken der Antibabypille und der damals weit verbreiteten Hormonbehandlung von Frauen in und nach den Wechseljahren. Im Laufe der Jahre kommen Beratungen über Behandlungsmöglichkeiten hinzu, in denen viele Frauenerkrankungen aus ganzheitlicher und feministischer Sicht betrachtet werden.

2000er-Jahre: Große Reisen und schwindende Kräfte

Das Frauengesundheitszentrum organisiert 2006, 2009 und 2012 drei große Rundreisen in Deutschland mit schamanischen Heilerinnen aus dem mexikanischen Projekt San Cristobal de las casas. Dabei finden von Offenburg über Nürnberg bis Hamburg, Berlin und Wolfsburg große Veranstaltungen statt, in denen es darum geht, die spirituelle Weltsicht, aber auch Frauenheilkunde und Geburtshilfe indigener Gemeinden kennenzulernen und in einen Kontakt und Austausch zu treten. Dabei entsteht ein achtsamer Raum: eine Begegnung von Menschen aus unterschiedlicher Sozialisation, Sprache und Kultur.

Im Laufe der Jahrzehnte engagieren sich weitere Frauen, doch die ehrenamtliche Arbeit zehrt nach und nach an den Kräften der Beteiligten und das Angebot wird nach und nach schmaler.

2016: Die dritte Generation übernimmt das FF*GZ - jetzt mit Sternchen

Nach den letzten Jahren des Stillstands, in denen Vorstandsfrau Doris Braune das Beratungstelefon, eines der ersten und wichtigsten Formate des FFGZ, weiter aufrechterhält, bleibt sie letztlich als einzige aktive Mitfrau zurück.

Im Herbst 2016 steht die Zukunft des Stuttgarter Zentrums in den Sternen und Doris startet einen letzten Versuch: Sie lädt eine Gruppe junger Stuttgarterinnen aus verschiedenen Bereichen wie Kultur, Pädagogik, Politik, Gastronomie, Handwerk usw. zu einem Treffen ein. Die gemeinsamen Gespräche bringen deren Ansichten über ihre Körper und die Gesellschaft ins Wanken: Wie kann es z.B. passieren, dass viele immer noch nicht wissen, dass es das Jungfernhäutchen gar nicht gibt – sondern die „vulvinale Corona“, einen Schleimhautsaum, anhand dessen Geschlechtsverkehr nicht nachweisbar ist?

Die Gruppe entscheidet sich, den Verein zu übernehmen und macht sich zur Aufgabe, dessen Anliegen an eine neue Generation weiterzutragen. Dabei soll die Ausrichtung des Vereins mit Blick auf Intersektionalität weiterentwickelt werden. Das FF*GZ trägt seitdem ein Sternchen im Namen: Alle Menschen, die sich als Frauen* oder nicht-binär identifizieren, können beitreten und im Plenum mitentscheiden. Darüber hinaus bezieht das FF*GZ von nun an auch Männer* in die feministische Arbeit ein. Für die vorherigen Generationen waren ausschließliche Frauen*räume zentral und demnach blieb Männern* der Zutritt zu den Vereinsräumen in der Kernerstraße bisher verwehrt. Bei einzelnen Themen öffnen wir die Türen weiterhin ausschließlich für Frauen* bzw. FINT (Frauen / Inter / Trans), aber grundsätzlich sind mit der Neuausrichtung Menschen aller Geschlechter eingeladen, unsere Veranstaltungen zu besuchen und mitzugestalten. Auch als Fördermensch kann jede*r unsere Arbeit unterstützen.

 

2017: Das neue Programm startet

Unter dem Titel „We all came out of a Pussy“ präsentiert sich das neu belebte FF*GZ im Oktober 2017 zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Die ganztägige Veranstaltung im Theater Rampe bietet ein vielfältiges Programm rund um die Themen Körper, Sexualität und Gesundheit mit Vorträgen, Installationen, Performances, Musik und Infoständen.

Mit dem Tender Tuesday startet im Herbst 2017 auch eine wöchentliche Veranstaltungsreihe; unter den ersten Themen sind “Lust an der Brust”, “Freie Menstruation”, “Erotisches feministisches Schreiben” oder “Gendersensible Sprache”.

2018 startet „FemFM“, die Radiosendung des FF*GZ, die jeden dritten Sonntag im Monat im Freien Radio für Stuttgart läuft. Unser Redaktionsteam spricht mit spannenden Gästen über aktuelle Veranstaltungen, gesellschaftliche Debatten oder vergessene Heilmethoden. Themen der Sendungen sind z.B. der Streit über den Paragrafen §219a, also das Verbot der Werbung für Abtreibung, Antifeminismus oder die Medizin der Maya.

2020: Der Verein erhält städtische Förderung

Nach der Neubelebung befindet sich der Verein ständig im Fluss: Es kommen immer mehr Mitfrauen* hinzu, andere ziehen sich zurück oder verlassen Stuttgart. Mit einigen bleiben wir in aktivem Austausch, so dass wir beispielsweise Kontakte nach München, Leipzig oder Wien pflegen und unser Netzwerk ausbauen.

Nachdem das FF*GZ mehr als zwei Jahre in Stuttgart, der Region und darüber hinaus aktiv ist und sich als wertvolle Akteurin profiliert hat, erhalten wir Anfang 2020 die erfreuliche Nachricht, dass die Stadt Stuttgart eine Förderung des FF*GZ bewilligt hat. Das heißt, uns werden die Übernahme der Mietkosten für unsere Vereinsräume sowie eine halbe Verwaltungsstelle zugesagt. Das bringt eine immense Erleichterung für unsere Arbeit und bedeutet eine große Wertschätzung der Arbeit unserer Vorgängerinnen seit 1986, die bisher rein ehrenamtlich war.

Im Juli 2020 besetzen wir die Verwaltungsstelle: Unsere hauptamtliche Mitarbeiterin Laura Walter unterstützt uns nun tatkräftig, so dass die Ehrenamtlichen sich verstärkt auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren können. Inzwischen zählt der Verein ca. 70 Mitfrauen*, von denen ca. 20 regelmäßig oder immer mal wieder aktiv sind. Wir freuen uns auf die nächsten Jahre der gemeinsamen Arbeit an einer gerechteren, vielfältigen und lebenswerten Welt für ALLE!

  • Michelle Murphy: Immodest Witnessing. The Epistemology of Vaginal Self-Examination in the U.S. Feminist Self-Help Movement. In: Feminist Studies., 30, 1, 2004, S. 115–147, hier S. 115–116.
  • https://www.womenshealthspecialists.org/about/the-womens-movement/carol-downer/
  • Lilo Berg: Von der Selbsterfahrungsgruppe zum Infocenter. In: Berliner Zeitung, 8. September 1999.
  • Siehe „Zeugnis“ an Brigitte Schmalz, FFGZ, Datum unbekannt