Sind wir nicht alle ein bisschen Anne Spiegel?
(geschrieben von Simona aus einer weißen cis-Akademikerinnen Perspektive)
Der erste Gedanke vieler junger Frauen nach dem Rücktritt von Anne Spiegel als Familienministerin: wäre sie ein Mann, hätte sie den Job behalten! Kein Mann hätte wegen eines „FAMILIENurlaubes“ sein Ministeramt räumen müssen.
Die Katastrophe war bereits passiert, während und vor allem wegen ihrer Abwesenheit sind keine größeren Schäden entstanden, die Sitzungen liefen wohl auch ohne sie ganz gut. Eine Entschuldigung für Unwahrheiten sollte natürlich schon sein. Die war dann so ehrlich, dass die deutsche Öffentlichkeit wohl auch nicht damit umgehen konnte. Natürlich heben sofort auch die Stimmen an die sagen, sie habe eben Fehler begangen und darum sei es nur richtig, dass sie zurücktritt. Es hätte auf jeden Fall nichts damit zu tun, dass sie eine Frau sei. Das wird sich wohl nie mit absoluter Bestimmtheit klären lassen.
Dennoch: Am Fall Anne Spiegel kristallisieren sich die Probleme, die viele Frauen derzeit haben. Die Schlagzeilen beziehen sich nicht auf Fehlentscheidungen oder problematische Kommunikation. Denn, seien wir doch mal ehrlich – so läuft Politik eben! Da wird nach „wording“ gesucht und gerungen, ganze Wissenschaftszweige der Politik- und Kommunikationswissenschaften sind darauf spezialisiert. Damit lässt sich vermutlich keine Schlagzeile machen. Aber eine Ministerin auf FAMILIENurlaub! Da bestätigt sich doch alles, was mensch glaubt über Frauen in politischen Ämtern zu wissen, aber was „man nicht mehr sagen darf“. Die kollektive Assoziationslinie, die sich hier zeigt: Frau-Familie-öffentliches Amt-Überforderung-Rückzug. Etwas ausführlicher: Sie ist eben zu schwach für das öffentliche Leben und soll sich doch bitte gerne um ihre Familie kümmern, wenn ihr das wichtiger ist. Da wird nun diskutiert, dass sie sich zu viel vorgenommen hat, sich übernommen hat, dass sie eben nicht für ihre Familie und Deutschland da sein kann. Denken wir so über männliche Politiker? Wird so über Männer berichtet?
Außerdem wird Anne Spiegel als Individuum für ihre Überforderung verantwortlich gemacht, dabei hat diese System. Die Corona Pandemie hat die kollektive weibliche Überforderung und Erschöpfung der letzten Jahrzehnte auf die Spitze getrieben. Vornehmlich Frauen, bzw. Mütter wurden wieder verstärkt für das Familienleben verantwortlich gemacht und haben sich dafür verantwortlich gefühlt, während sie gleichzeitig versuchen ihre Belange auch im öffentlichen Leben zu vertreten und ihr eigenes Geld zu verdienen. Anne Spiegel verkörpert diese Erschöpfung und macht sie deutlich sichtbar. Vielleicht sollten wir ihr an dieser Stelle dafür danken.
Das passiert Frauen sehr schnell, wenn sie Fehler machen: Oh, da hast du dich überfordert, das ist nichts für dich, lass das mal lieber bleiben. Wie sollen wir da in Aufgaben reinwachsen, wenn sofort der Rückzug vorgeschlagen wird? Unsere Fehler nicht als Lernprozess betrachtet werden? Dafür braucht es natürlich Rückendeckung, Mentoring, ein bisschen Raum. Ohne diesen Raum, wird es sehr schnell, sehr anstrengend. Die Angst davor, Fehler könnten als Beweis für unsere weibliche Unfähigkeit hergenommen werden, legt noch eine Schippe an Stress drauf. Wir sind erschöpft, machen Fehler. Ein Teufelskreis, oder? Und wäre es nicht gerade bei Politiker*innen wünschenswert, dass sie nicht nur physisch sondern auch mit Konzentration in Sitzungen anwesend sind?
Gleichzeitig ist ein Gefühl von Überforderung unter Frauen tatsächlich stark verbreitet. Zum einen gibt es da das zugeschriebene Verantwortungsgefühl für die Beziehungen um uns herum, oft eben die Familie, das einige von uns vielleicht stärker annehmen, als uns lieb ist. Eine Falle, in die wir Tappen auf dem Weg zu gesellschaftlicher Mitbestimmung: das Bedürfnis, uns um die Menschen zu kümmern, die uns umgeben. Und wie perfide, dass dieses Bedürfnis als Falle betrachtet werden muss! Wäre es nicht besser, dieses Bedürfnis hätten alle Menschen in Positionen, die unsere Gesellschaft und damit unsere sozialen Beziehungen gestalten? Zum anderen gibt es diese Botschaften, die einem als junge Frau mit sogenanntem Potential permanent an den Kopf geworfen werden: Du darfst dich nicht übergehen lassen! Beweise dich! Verhalte dich wie die Männer! Das wird uns ganz ehrlich und ganz echt gesagt. Und wenn wir uns einmal laut fragen, ob wir das wirklich können, werden wir von wohlmeinenden Mentorinnen und Freundinnen niedergebügelt: Zweifle nie an dir! Wen wundert es, wenn wir uns da schwer tun, unsere Grenzen zu spüren? Wenn eine angehende Ministerin ein ums andere Amt annimmt, um ihren politischen Weg gehen zu können? Und warum sollte das überhaupt verwerflich sein? So verwerflich, dass sie darüber ihren Job verliert?
Letztlich wird Anne Spiegel, wie so viele Frauen vor ihr und leider vermutlich auch noch einige nach ihr, mit den üblichen Kategorien in Verbindung gebracht und damit ihre angebliche Inkompetenz erklärt: Familie und Überforderung. Und offensichtlich haben nicht genug Kolleg*innen Partei für sie ergriffen. Vielleicht musste sie nicht zurücktreten, weil sie eine Frau ist. Aber sehr wahrscheinlich hat ihre (politische) Sozialisation als Frau und die gesellschaftlichen Zuschreibungen als Frau einen erheblichen Anteil daran, dass ihr ausgerechnet ein „FAMILIENurlaub“ das politische Genick bricht. Besonders bitter ist ihr Fall für viele von uns, weil er zeigt: Du kannst dich abrackern wie du willst, am Ende wird vielleicht genau das gegen dich verwendet.
Foto: Pixabay