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„Wir alle wurden geboren“ Interview mit Chiara Fleischhacker, Regisseurin des Films „Vena“ (ab 28.11. im Kino)

 

Anna Bakinovskaia: Chiara, du hast früher Kurzfilme gedreht, dieser Film ist dein erster langer Spielfilm. Wie hast du diesen Prozess vom Anfang, von der Idee bis zur Premiere des Films erlebt?

 

Chiara Fleischhacker: Wow, ja, das waren viereinhalb Jahre. Das ist ein langer, intensiver Prozess gewesen. Und ich weiß schon noch, dass ich im letzten Jahr an der Uni überlegt habe: mache ich einen Kurz- oder Langspielfilm und bekomme ich jetzt ein Kind? Mir war bewusst, dass wir mehr Chancen haben in der Branche zu bestehen, wenn wir mit einem Langspielfilm abschließen und meinen Kinderwunsch wollte ich auch nicht verschieben. Also entschied ich mich beides parallel zu fahren: Kinofilm drehen und Mutter werden. Dass es herausfordernd wird, ahnte ich, aber in der Form war es nicht erwartbar. Vor allem weil auch, weil ich meine Tochter alleine großziehe.

Die Idee zum Film kam mir beim Schnitt meines Dokumentarfilms, den ich in einem Männerstrafvollzug drehte und sich mit der Paradoxie des deutschen Strafsystems auseinandersetzt. Ich war da gerade mit meiner Tochter schwanger und habe mich gefragt, ob schwangere Frauen auch in Haft müssen. Das war die Leitfrage, die eine sehr lange Recherche eingeleitet hat. Zum Glück konnte ich die wundervolle Redakteurin Stefanie Groß von der Idee begeistern und so VENA als Langspielfilm umsetzen!

Wir wollten unter sozialverträglichen Bedingungen drehen, aber waren weit entfernt davon. Ich würde sagen, es gibt auf jeden Fall eine Version von mir vor dem Dreh und nach dem Dreh. Das war ein einschneidendes Erlebnis, weil wir auch einen Drehabbruch hatten und definitiv unsere Grenzen überschritten haben.

Wir haben die lange Strecke nur durchgehalten, konnten das nur machen, weil wir so überzeugt von der Relevanz des Films und von unserer Perspektive als Frauen in der Filmwelt sind. Und wahrscheinlich ist es ist auch ein Ansporn, eine Tochter zu haben und für alle werdenden Frauen, Frauenbilder in die Welt zu tragen, die gesünder und nicht sexualisiert sind.

 

Anna: In den letzten Jahren gab es viele Berichte über die männerdominierte und frauenfeindliche Welt der Filmindustrie. Mit dem FF*GZ kämpfen wir gegen Arbeitsstrukturen, die für Frauen* nicht freundlich sind. Wie erlebst du als Regisseurin und als Mutter das System der Filmproduktion?

 

Chiara: Absurd. Die ganze ist nicht frauen- und familienfreundlich gestaltet und die Filmbranche erst recht nicht. Wir befinden uns in einer exklusiven Branche. Man muss es sich leisten können in ihr zu arbeiten, was fatal ist, weil dadurch einseitige Perspektiven entstehen, die uns als Gesellschaft wiederum rückkoppelnd prägen und uns unsere Möglichkeiten nicht vor Augen führen. Auch der Strafvollzug ist auf männliche Standards genormt, wobei er eigentlich nicht mal auf menschliche Standards genormt ist. In jedem Fall ist er nicht für schwangere Inhaftierte gemacht.

 

Wir haben im Team teilweise viereinhalb Jahre unbezahlt an dem Film gearbeitet, was man sich eigentlich nicht leisten kann. Das ist ein sehr exklusives Unterfangen und führt zu der Frage, wer kann überhaupt Filme machen? Und dann noch alleinerziehend zu sein, war definitiv die Spitze des Eisbergs, hat das ganze definitiv zusätzlich erschwert.

 

Wenn in Entscheidungspositionen Geschlechterparität herrschen würde, würde unsere Welt ganz anders aussehen. Da spielen auch Stigmata eine große Rolle. Es führen immer noch weniger Frauen Regie als Männer. Und wenn, dann mit wesentlich niedrigeren Budgets.

 

Anna: Du hast schon begonnen von den Bedingungen des deutschen Strafsystems zu erzählen. Warum ist es dir so wichtig, die Absurdität und Brutalität dieses Systems zu zeigen?

 

Chiara: Mir war es wichtig, eine marginalisierte Gruppe zu zeigen. Schwangere Inhaftierte und auch generell Frauen sind wesentlich seltener inhaftiert als Männer. Aber es ist natürlich auch ein Bereich, wo niemand hinsieht. Es gibt keine Daten dazu, wie viele Frauen während ihrer Haftzeit entbinden und wie viele Trennungen zwischen Müttern und ihren Kindern stattfinden. Es ist auch gesetzlich ein sehr wenig bis gar nicht geregelter Bereich.

 

Es guckt niemand hin und da schreit niemand auf, außer vielleicht die Frauen, denen das widerfährt. Aber die haben einfach keine Stimme. Ich befasse mich schon lange mit dem Strafvollzug als System und sehe da wahnsinnig viele Paradoxa. Schon allein der Anspruch zu resozialisieren – wie kann mit einer Inhaftierung resozialisiert werden, indem Menschen aus ihrem sozialen Umfeld herausgenommen werden? Und wie wirksam ist Strafe eigentlich nach den Aspekten, wie wir denken, wie Strafe wirkt?

 

Der Anspruch einer Gesellschaft sollte sein, dass es weniger Delikte gibt und damit weniger Opfer demnach sowie geringere Rückfallquoten. Aber der Strafvollzug macht genau das Gegenteil. Und was dort passiert, zwischen Mutter und Kind oder auch Familien, weil den Vätern ja auch die Möglichkeit verwehrt wird, mit ihrem Kind aufzuwachsen, geht natürlich noch über die Freiheitsstrafe hinaus und greift nachhaltigin das Leben des Neugeborenen ein. Dieses trägt so die Schuld der Mutter direkt mit. Die Schwangerschaft ist mit hoher Wahrscheinlichkeit risikobehafteter, weil die mentale Belastung bei einer Inhaftierung ansteigt.

 

Es gibt im Strafvollzug viele Menschen, die dort tatsächlich nicht sitzen sollten. Und das ist wirklich kontraproduktiv, wenn man sich die Rückfallquoten anschaut. Im Frauenbereich sind es selten Gewaltstraftaten. Hier handelt es sich um Straftaten wie das Erschleichen von Leistungen, Betrug, Diebstahl oder Beschaffungskriminalität. Diese Delikte, führen oft durch eine Inhaftierung zu weiteren Straftaten. Einfach, weil man vielen die Lebensgrundlage nimmt, anstatt wirklich den Anspruch zu haben, den Menschen ein soziales und stabiles Leben zu ermöglichen.

 

Anna: Ich war begeistert von den Hauptfiguren. Ich hatte dieses Gefühl von Ehrlichkeit. Und tatsächlich, du hast auch gesagt, dass der Filmprozess sehr lange gedauert hat und es viele Hürde gab. Wie war deine Arbeit mit den Darsteller*innen? Wie hast du eine Beziehung zu beiden aufgebaut?

 

Chiara: Es war eine schöne Zusammenarbeit und die Casting-Zeit war auch eine der schönsten Phasen des ganzen Lern-Prozess.

Ich arbeite generell sehr intuitiv und die Hauptdarsteller*innen Emma und Paul auch. Wir haben diese Vertrauensbasis und hatten eine gemeinsame Vision. Es ist ein sehr klares Verständnis für die Figuren da. Paul hat seine Rolle „Bolle“ besonders stark geprägt, teilweise durch persönliche Erfahrungen. Wir haben viel über unsere Biografien und die der Figuren gesprochen. Und da im Kern emotionale Themen verhandelt werden, an die wir alle anknüpfen konnten/die uns alle betreffen können, war es, glaube ich, für die beiden leicht in die Rollen zu finden.

Emma hat viel aus dem Drehbuch gezogen hat, das ich sehr detailreich geschrieben habe. Und sie war beim ersten Casting so gut vorbereitet, dass sie Jenny schon in gewisser Weise verkörpert hat. Da hat sie viel intuitive Vorarbeit geleistet.

Und wir haben auch viele Gespräche mit Recherchepartnerinnen geführt, die Konsumgeschichte haben. Ich war mit Emma unter anderem in einem offenen Vollzug, wo eine Mutter mit ihrem Kind lebte. Wir haben uns so inhaltlich der Welt angenähert.

 

Anna: Es gibt es auch ein anderes wichtiges Thema, was für mich auch wichtig war: in diesem Film zeigst du in diesem Fall weiblich gelesene Körper oder Frauenkörper ohne diese unbedingte Schönheit draufzulegen.

 

Es gibt einen anderen Fokus, so wird auch die Geburt des Kindes gezeigt. Kannst du erzählen, warum du diese Entscheidung getroffen hast, zum Beispiel in der Montage oder in der Dreharbeit. Und warum war es dir wichtig, das zu zeigen?

 

Chiara: Ich habe mich nach der Geburt meiner Tochter gar nicht identifizieren können mit dem Bild von Geburt, das ich aus Filmen kannte. Das war sehr weit davon entfernt. Mir haben die Bilder gefehlt.

Ich hätte gerne gewusst, wie eine Plazenta aussieht und wie eine Geburt stattfinden kann. Geburtsverläufe sind wahnsinnig unterschiedlich, manche sind sehr traumatisch. Aber mir haben diese realen Bilder gefehlt. Damit hätte ich mich vielleicht nach meiner Geburt nicht so sonderbar gefühlt. Außerdem hatte ich den starken Wunsch, diese Bilder zu kreieren und in die Welt zu tragen, um so die Wertschätzung aller Menschen möglich zu machen, denn wir alle haben mit Geburt zu tun. Wir wurden alle geboren. Ob eigene Kinder oder nicht, wir alle sind diesen Weg gegangen. Die Thematik prägt uns alle bewusst oder unbewusst.

Was unter der Geburt stattfindet, ist auch Kondensator und Symbol für unsere Stärken und Schwächen. Und auch für unsere Gesellschaft. Man sagt ja immer, wie eine Gesellschaft mit Inhaftierten umgeht, spiegelt sie wider. Aber ich finde auch, wie eine Gesellschaft Geburtshilfe leistet, spiegelt ihr Frauenbild wider und wo die Gesellschaft steht. Was für mich anfangs nur Faszination war – ich fand es wahnsinnig beeindruckend und wollte die Bilder in die Welt tragen – wurde in dieser Szene immer politischer für mich, weil ich begriffen habe, es gibt noch immer viele Tabus im Zusammenhang mit Geburt.

In der Montage war mir schon klar, dass ich das genauso zeigen möchte. In der Szene ist es für Jenny relevant, wie sie ihr Kind zur Welt bringt und in welcher Position. Es zeigt, was für ein Kraftakt eine Geburt ist. Hier geht es auch um die Bindung von Jenny zu ihrer Tochter Lexa und Das ist ein wichtiger Moment in der Geschichte. Nichts davon wollte ich in der Geburtsszene verstecken.

 

Anna: Ich fühle, dass dieser Film vor allem eine Geschichte von Liebe ist. Es gibt unterschiedliche Formen von Liebe und unterschiedliche Fragen rund um Liebe. Ganz stark die Liebe auch zu sich selbst. Auch was passiert zwischen den Hauptfiguren. Was passiert mit der Hebamme? Was passiert mit dem Kind?

 

Chiara: Ja, es geht stark um Bindungen. Warum binden wir uns an Menschen, die uns nicht guttun? Wie sehen gesunde Bindungen aus? Wie schwierig ist es für manche Menschen, eine Bindung zum eigenen Kind aufzubauen, wenn Bindung nie ein stabiles Element im Leben war? Es geht um Bindung, Bindungsfähigkeit und die Chance auf Bindung.

 

Anna: Ich würde unser Gespräch gerne mit der Frage abschließen: Was wünschst du dir für die Zukunft?

 

Chiara: Für meine Zukunft oder für die Welt? Für meine persönliche Zukunft? Seelenfrieden. Also so eine innere Ruhe wünsche ich mir. Mein Lebensziel ist es, zu schaffen, im Zug einzuschlafen. Das ist ein persönliches Ziel.

Aber wenn ich über mein ganz persönliches Lebensziel hinausblicke, wünsche ich mir, dass es mehr Wertschätzung für Frauen gibt in unserer Gesellschaft, mehr Wertschätzung für marginalisierte Gruppen, dass unsere Gesellschaft inklusiver wird und dass man die Chance versteht, diese Schritte zu gehen und das nicht nur als notwendigen Wandel sieht, sondern als Chance für alle. Wertfreier durch die Welt zu gehen, kann auch persönliches Glück bedeuten, weil man einfach weniger von Ablehnung und Hass und negativen Gefühlen geprägt ist.

 

Anna: Chiara, vielen Dank für das Gespräch. Ich finde, du machst so eine wichtige Arbeit und du hast deinen eigenen Stil entwickelt, dass ich dir noch viele weitere Projekte wünsche und dass du deinen Platz in diesem System findest und nimmst.

 

 

VENA AB 28. NOVEMBER BUNDESWEIT IM KINO UND AB 13.11. AUF KINOTOUR

Die Premiere in Stuttgart findet am 16.11. im Delphi statt.

 

Jenny liebt ihren Freund Bolle, mit dem sie ein Kind erwartet. Was für andere das größte Glück bedeutet, löst in Jenny ambivalente Gefühle aus, denn das Leben hat ihr zuvor viel zugemutet. Sie ist mit der Justiz und dem Jugendamt aneinandergeraten und ihre Beziehung mit Bolle leidet zunehmend unter der Drogenabhängigkeit der beiden. Als ihnen die Familienhebamme Marla zugewiesen wird, reagiert Jenny zunächst wenig begeistert. Doch Marla verurteilt sie nicht und schafft es mit stoischer Geduld, ihr Vertrauen zu gewinnen. Je mehr Jenny Marla in ihr Leben lässt, desto mehr begreift sie, dass sie Verantwortung übernehmen muss – für ihre Vergangenheit, ihre Zukunft und das neue Leben, das in ihr heranwächst.

 

Nach ihrem eigenen, preisgekrönten Drehbuch gelang Chiara Fleischhacker eine authentische und klischeefreie Milieustudie voller Kraft, Hoffnung und Zärtlichkeit. Neuentdeckung Emma Nova brilliert in der Hauptrolle an der Seite des nicht minder überzeugenden Paul Wollin. Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) verlieh VENA das Prädikat „besonders wertvoll“.

 

Trailer zum Film: YOUTUBE

 

Hintergrund:

VENA ist ein Film über die strukturelle Benachteiligung von – vorrangig nicht privilegierten – Frauen innerhalb unseres Gesellschafts- und Justizsystems. Es ist ein Film über die Notwendigkeit von Familienhilfe, von Hilfen für Frauen in Notlagen und über den notwendigen Schutz der Mutter-Kind-Bindung auch in belastenden Situationen, über das Spannungsfeld nachhaltiger, sinnvoller vs. traumatisierender Strafen. VENA zeigt das gesamte Dilemma, was es bedeutet aus dysfunktionalen Strukturen ausbrechen zu wollen, sich aus der Sucht zu befreien, aus persönlichen Krisen, der Einsamkeit, Kraft aus dem Mutterwerden zu schöpfen, aber immer wieder zurückgeworfen zu werden durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

 

VENA erzählt kraftvoll die Geschichte einer jungen Frau, deren erdrückende Lebensrealität wenig Perspektiven für ihr Leben zulässt, und die regelmäßig in den Rausch flüchtet, bis sie ungewollt schwanger wird. Für ihr Baby und eine bessere Zukunft stellt sie sich mit Unterstützung ihrer Familienhebamme ihrer Sucht, muss aber trotzdem schwanger ihre Gefängnisstrafe antreten, wo sie nach der Geburt in einem Justizsystem, das nicht auf Mütter ausgelegt ist, von ihrem Baby getrennt wird… Beraten wurde der Film zahlreichen Expert*innen wie u.a. durch Hilly Škorić von Hilfreich e.V., Eric und Edith Stehfest, Hebamme Sissi Rasche, die Regisseurin recherchierte intensiv in verschiedenen JVAs im Bundesgebiet.